Eine Performance-Rast auf der Giswiler Allmend
Ein Samstagsnachmittags-Spaziergang über die Giswiler Allmend: Unser Weg ist ein Feldweg zwischen zwei Wiesen mit Obstbäumen und Speichern. Kuhglockengeläut in verschiedenen Tonhöhen ist die Musik. Dazu wechselt sich entferntes Traktorengeknatter mit dem Brummen eines Helikopters ab.
Etwas abseits des Weges liegen ein paar Menschen im Schatten eines Apfelbaums. Kann es denn sein, dass die hier
so ihren Nachmittag verbringen? Viele scheinen die Mittagsschläfer kaum zu beachten, empfinden sie nicht als aussergewöhnlich. Etwas weiter weg rechts des Weges steht ein Kameramann unter einem Telefonmasten. Was macht er hier? Es scheint doch etwas Ausserordentliches vor sich zu gehen. Aber was?
Hinter dem nächsten Speicher ist eine zweite Gruppe bei der Mittagsrast. Hier bleiben alle Passanten stehen. Eindeutig wird ihr Anblick als sehenswert empfunden. Sie verdienen es, bemerkt zu werden und innezuhalten. Wodurch wird dieses Empfinden ausgelöst?
Sie sind aussergewöhnlicher. Sie werden als aus der Normalität herausstechend beurteilt: Ein Mann steht unter einem Holunderstrauch und spielt ein sonderbares Mundinstrument. Er hat zwei schwarze Zöpfe, trägt einen Hut und Geländeschuhe. Ein spielender Hirte? Sein Instrument ist keine Hirtenflöte, es macht ein surrendes Geräusch. Seine Hirtentasche ist eine Freitagtasche, sie steht hinter ihm. Sein Blick ruht auf zwei Frauen auf der Wiese. Eine sammelt Kräuter, die andere liegt mit Gummistiefeln im Gras. Eine Bäuerin bei der Mittagsrast? Neben ihr liegt ein Fahrrad.
In diesen Anblick versunken sind die Festivalbesucher auf dem Weg stehengeblieben, sie sind zu Zuschauern geworden. Nur wenige wagen sich ins Gras, die Wiese ist zum Performance Raum geworden. Was macht diese Szene betrachtungswürdig im Gegensatz zu den vorausgegangen Mittagsruhszenen? Wir beurteilen sie als zu sonderbar, um der Giswiler Normalität anzugehören. Ihre Merkwürdigkeit lässt uns die drei als Performer erkennen, was uns auch erlaubt sie anzustarren.
Sie jedenfalls scheinen sich nicht daran zu stören, dass ihnen dutzende von Leuten bei der Mittagspause zuschauen. Dass sie ihre Aktivitäten in unserer Anwesenheit unbeirrt fortsetzen, bestätigt unsere Annahme, einer Inszenierung beizuwohnen.
Der Hirte spielt und wiegt von einem Fuss zum andern. Der pfeifende Schrei eines kreisenden Raubvogels antwortet auf den rhythmischen, immer gleichen, näselnden Ton seines Mundinstruments. Die Bäuerin erwacht. Wie wird sie auf uns reagieren? Sie steht auf und schaut in den Himmel, in die Wolken. Einige im Publikum zücken ihre Handys oder Kameras. Eine Frau fotografiert in die Blickrichtung der Bäuerin. In den Wolken findet auch ein Schauspiel statt. Die Blicke der Performer setzen den Fokus. Einen Fokus, der von der Performance wegführt. Der Blick Richtung Wolken lenkt unsere Aufmerksamkeit auch wieder zu den Bergspitzen. Wie wir wohl aussehen von dort oben? Sie wiederum haben den Überblick über das Spiel, das die Performance mit den Zuschauern treibt, wie sie uns zu einer Rolle verführt, mit der wir uns auseinandersetzen müssen: Wie lange bleiben wir hier stehen, was gibt den Anstoss zum Weitergehen? Einige antwortsuchende Blicke gehen zwischen den Zuschauern hin und her. Gleichzeitig nimmt die Zuschauerhaltung im Publikum ab, viele haben einen in sich versunkenen Blick. Der Inhalt der Performance ist nicht nur, was man sieht, sondern auch wie man sich selbst in Bezug darauf verhält.
Plötzlich ruft von weitem ein Pfiff. Eine Gestalt mit zwei Ziegen an einem Strick kommt zwischen dem Schilf zum Vorschein. Das Publikum erwacht aus seinen Gedanken zum erlebten Geschehen und seinen eingerasteten Körperhaltungen. Bewegung kommt in die Gruppe, Schritte rühren sich auf den Kieselsteinen. Einige haben sich aber auch ins Gras gesetzt, sind selbst zu Rastenden geworden. Auf inszenatorische Anweisung oder einfach nur angesteckt vom Anblick?
Ein junger Bauer mit grüner Sonnenbrille fährt auf einem Geländefahrzeug mit Anhänger durchs Publikum. Auf diesen Impuls schwingt sich die Bäuerin auf ihr Fahrrad und fährt in Richtung Dorf davon. Nach der Ablenkung durch das Fahrzeug ist auch der Platz unterm Holunderstrauch plötzlich leer.
Die Geisshirtin sucht sich ihren Weg durchs Publikum. Die Ziegen nehmen Kontakt zu den Zuschauern auf. Diese posieren mit den Ziegen für ein Foto. Mit den tierischen Performern scheint es keine Berührungsängste zu geben, keinerlei Befangenheit liegt in ihrem Austausch. Selbst die Geisshirtin wird ausgefragt über ihre Tiere. Der Fokus liegt jetzt auf dem Geschehen im Publikum selbst. Ein Teil der Zuschauer schaut jenen zu, die mit den Ziegen anbändeln. Letztere stehen nun im Fokus der Zuschauer. Dadurch verschiebt sich die Rollenverteilung zwischen Zuschauern und Performern. Dann zieht auch die Geisshirtin weiter in Richtung Dorf.
Die Kräutersammlerin ist noch da. Abgesehen vom Dokumentationsmaterial wird ihr nach und nach in die Wiese gegrastes Fleckchen bald der einzige Beweis sein, für die Anwesenheit der sonderbaren, sehenswerten Gestalten. Die Form des gegrasten Überbleibsels ist den von oben Zuschauenden vorbehalten.
Die Performance-Pause auf der Wiese war auch eine Rast im Festival-Ablauf. Durch ihre sanften unscheinbaren Spielereien mit Inszenierung und Normalität hat sie mich aus der nur rezeptiven Rolle in eine analysierende hineingeführt und aus dem Trott der reinen Informationsaufnahme herausgelockt. Somit hat auch meine für gewöhnlich passive Zuschauerhaltung eine Mittagsrast gemacht.
Aus einem Text von Christina Brandenberger
--> publiziert auf
www.apresperf.ch