Performance
Kunst(Zeug)Haus Rapperswil
Im Rahmen von *fünfstern & nextex
Innerhalb der Ausstellung von Luigi Archetti "Musik seitwärts"
12. März 2011
Eine Landschaft aus Gegenständen, ein lustvoll zerstreuter Brockenhaus-Ausschuss: eine Schaukel, Staubsauger, Globus, Servierboy, quietschendes Plüschtier, Fliegenklatsche, Telefon, Polstersessel... Alltagsgegenstände aber Kunst, indem sie die Situation für die Performance darstellen. Alltägliche Utensilien sind also wichtiger Bestandteil der Erlebniswelt einer Performance, während der dem Besucher seine Alltags-Zuschaueridentität entzogen wird. Überhaupt lösen sich in ihrem Verlauf die alltäglichen Theateridentitäten auf, die Grenzen zwischen Performern und Zuschauern werden fliessend.
Doch lange bevor die Zuschauer dies bemerken, steigen sie unverblümt, ihre übliche Zuschauerhaltung auf sich tragend, in die Performance ein. Ganz nach ihrer Erwartung an eine performative Darbietung nehmen sie sofort die mit Tierköpfen bestückten Performer ins Visier. Diese heben Gegenstände auf, tragen sie herum, spielen mit ihnen oder versuchen sie einfach irgendwie zu gebrauchen. Sie führen mit einer Selbstverständlichkeit zweckferne Beschäftigungen aus, die den Zuschauer als Neuankömmling unterschwellig auf das funktionsentziehende Programm der Performance einstimmen.
Das gewohnheitsmässige Zuschauen füllt die ersten Minuten noch voll aus. Der Zuschauer-Drift im Raum beruht auf natürlichen Gesetzmässigkeiten: Wenn durch die Aktionen der Performer gerade eine besonders interessante Situation entsteht wird stehengeblieben. Die Neugierde auf ein aufdringliches Geräusch lässt einen den Standort wechseln. Womöglich geschieht dort gerade etwas mehr oder etwas Sinnstiftendes. Doch durch Zuschauen ist der vollumfängliche Gehalt des gerade ablaufenden auf alle Beteiligten einwirkenden Geschehens noch nicht ausgereizt. Denn sobald die Geräuschquelle aufgespürt ist, entpuppt sie sich wiederum als Produkt einer Beschäftigung zwecks Beschäftigung.
Die Blicke der Tiermasken sind leer, sie scheinen mich als Zuschauerin nicht zu betreffen und schweifen an mir vorüber. Etwas verloren in den um mich herum vorgehenden Abläufen, die mir kaum einen Anknüpfungspunkt gestatten, beginne ich mich plötzlich selbst wahrzunehmen. Somit verbringe ich eine zweite Wahrnehmungsepisode damit, mich zu fragen, was meine Aufgabe ist. Um die mir zugedachte Funktion herauszufinden, orientiere ich mich an den anderen. Doch die vermeintlichen Zuschauer verhalten sich nicht alle zuschauerkonform. Scheinbar existiert ein ganzes Spektrum von Zuschauer- und Performer-Verhalten. Dieses Spektrum beruht aber nicht nur auf den ineinander übergehenden fein abgestuften Varianten von Zuschauer- und Performer-Verhalten. Ein unabhängiger Aussehensgradient, dessen ausgeprägteste Erscheinungsform die mit Tierköpfen maskierten Performer sind, wirkt den Verhaltensvarianten entgegen. Aussehen und Verhalten, die normalerweise die aussagekräftigsten Unterschiede zwischen Performern und Zuschauern ausmachen, sind diesmal so verteilt, dass Widersprüche entstehen: So bewegen sich, wie ganz normale Zuschauer aussehende Personen plötzlich mit grotesken Tanzbewegungen durch den Raum, während sich die Tierkopf-Träger eher, wie zum Mitmachen animierte Zuschauer benehmen.
Der Beginn der Verwirrung bedeutet den Aufstieg auf ein höheres Level: Denn das Werweissen, wer nun Zuschauer ist und wer Performer, ist ein den Erlebnishorizont erweiternden Effekt der Performance und beruht auf einem dem Zuschauer wohl unlösbare Rätsel stellenden Prinzip: Einen besonders passiven Zuschauer beobachte ich misstrauisch, ob er nicht ein von einem Performer gespielter Zuschauer ist. Einer besonders aktiven Zuschauerin unterstelle ich vermutlich mehr als vielen Performern, dass sie Performerin ist. Die Frage nach der Grenze zwischen Zuschauer und Performer ist aber eigentlich vergebliche Sinngebung in einem Verwirrspiel der üblichen theatralen Verhaltensmuster. Doch genau dieses Wirrwarr stellt die Zuschauer vor die Möglichkeit Performer zu werden, wodurch sie mit den Hemmungen einzugreifen oder einer plötzlich entfesselten Perform-Wut konfrontiert werden. So beginnt mancher Zuschauer mitzuwirken, nicht zuletzt ermutigt durch die Aktivität eines einen Zuschauer mimenden Performers oder eines instruierten Zuschauers.
Grenzüberschreitung braucht Mut. Als Zuschauer die Performance mitzugestalten empfindet mancher von ihnen als Eindringen in eine Welt, in der er fremd ist. Doch diese Performance bietet ein ideales Experimentierfeld für erste performative Gehversuche sowie für Fragestellungen an die Möglichkeiten des Eingreifens in ein performatives Geschehen. Sie animiert zur Reflexion über das eigene Verhalten und thematisiert anhand der Gefühle, die sich in manchem Zuschauer regen, die Schwierigkeit, die alten Rollen abzuschütteln und die Regeln loszulassen.
Obwohl die Grenzen in dieser Performance konzeptionell nicht existieren, sind sie doch kulturell eingebrannt in die Köpfe der Theatergänger. Die Frage, wie viel Mitwirken erwünscht oder angebracht ist, drängt sich bei schmelzenden Grenzen umso mehr auf. Vergessen wird, dass das Publikum in jeder noch so konventionellen Theatersituation absichtlich oder unabsichtlich eine mitwirkende Instanz ist. So ist jeder Zuschauer, auch wenn er jeglichen Versuchungen, aktiv zu werden, widersteht und seinem Ursprung treu bleibt, ebenso Teil der Performance und eine zum Ganzen beitragende Facette. Unter Umständen muss er ungewollt sogar mehr performative und schauspielerische Aktivität aufwenden, um allen Einwirkungen zum Trotz den glaubwürdigen Zuschauer abzugeben.
Neben den, durch die Performance, möglich gemachten Identitätsverlusten, bleibt jedoch die Funktion des Zuschauers als Erlebender unabdingbar. Denn ohne ihn wären wohl jegliche theatralen Bemühungen sinnlos.
Christina Brandenberger